Theologen und ihre verborgenen Liebesgeschichten: Eine theologische Neuentdeckung
Der neue Sammelband mit dem vielsagenden Titel „Urereignis Liebe“ beleuchtet auf überraschende Weise das Innenleben bekannter Theologen. Herausgegeben von Eckhard Frick, Roman Siebenrock und Christoph Theobald, zeigt das Werk, wie Liebe nicht ein Hindernis, sondern eine zentrale Inspirationsquelle für das theologische Denken war. Mit beeindruckender Offenheit wird dokumentiert, wie emotionale Beziehungen das Werk von Persönlichkeiten wie Karl Rahner, Karl Barth und Hans Urs von Balthasar nachhaltig prägten.
Eine neue Perspektive auf die Liebe in der Theologie
Literaturkritiker Charles Linsmayer hebt in seiner Rezension die Bedeutung dieser ungewöhnlichen Sammlung hervor. Die Autorinnen und Autoren des Bandes zeichnen die emotionalen Tiefen theologischer Persönlichkeiten nach und zeigen, dass private Gefühle nicht verdrängt, sondern oftmals im Verborgenen ein integraler Bestandteil ihres theologischen Werdegangs waren. Die Essays sind keine Sammlung romantischer Anekdoten, sondern eine theologische Pionierarbeit, die auch Tabus berührt.
Emotionale Verbindungen und ihr theologischer Einfluss
- Karl Rahner, ein zentraler katholischer Theologe des 20. Jahrhunderts, beschrieb seine Beziehung zur Schriftstellerin Luise Rinser als die „groesste Revolution seines Lebens seit 1922“. Sie öffnete ihm den Zugang zu existenziellen Glaubensfragen – besonders zur weiblichen Gotteserfahrung.
- Karl Barth lebte über viele Jahre in einer offenen Dreiecksbeziehung mit seiner Ehefrau Nelly Barth und seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum. Letztere war seine Geliebte und intellektuelle Partnerin. Für Barth war dieses Arrangement ein Ort geistiger Freiheit.
- Hans Urs von Balthasar pflegte eine theologisch-spirituelle Partnerschaft mit der Aerztin Adrienne von Speyr, die seine Werke entscheidend mitprägte und die katholische Mystik aus weiblicher Perspektive bereicherte.
- Auch Dietrich Bonhoeffer wird in seiner emotionalen Tiefe gezeigt: Die Briefe an seine Verlobte Maria von Wedemeyer während der Haft offenbaren eine tief verwurzelte Liebe, die auch seine Theologie der Nachfolge beeinflusste.
Eine Einladung zur theologischen Neuentdeckung
„Urereignis Liebe“ ist nicht einfach eine Sammlung biografischer Episoden. Es ist eine Einladung, Theologie als menschliche Auseinandersetzung mit Gott, Leben und Liebe zu erleben. Die Herausgeber ermutigen dazu, Gefühl und Glaube als Einheit zu betrachten – eine Vorstellung, die vor allem junge Theologinnen und Theologen inspirieren könnte.
Das Buch erscheint im angesehenen Herder Verlag, umfasst 304 Seiten und kostet 54.90 Franken. Es richtet sich an alle, die Theologie aus einer neuen, persönlichen Perspektive erfahren möchten – mit psychologischer Tiefe und biografischer Eindringlichkeit.
Über den Rezensenten
Charles Linsmayer ist Journalist und Literaturkritiker mit Sitz in Zürich. Seit Jahrzehnten gelingt es ihm, mit sprachlicher Präzision Inhalte zu vermitteln und Literatur auf lebendige Weise zugänglich zu machen. Er gilt als einer der bedeutendsten Vermittler zwischen anspruchsvoller Literatur und breitem Publikum.
Diese Besprechung zeigt eindrücklich: Liebe war nie ein Randthema theologischen Denkens – sie war dessen zentraler innerer Motor. Für erfahrene Leser ist der Band eine Einladung zur Reflexion, für Einsteiger ein faszinierender Zugang zu emotionaler Tiefe in der Theologie.