Wenn der Wunsch nach perfektem Schlaf krank macht: Die Schattenseite von Wearables
Smartwatches, Fitness-Armbänder oder smarte Ringe mit Schlaftracking-Funktionen sind für viele Menschen inzwischen ein ständiger Begleiter – sowohl am Tag als auch in der Nacht. Sie versprechen besseren Schlaf, mehr Erholung und Kontrolle über die eigene Gesundheit. Doch bei genauerem Hinsehen wird eine problematische Kehrseite sichtbar: Die sogenannte Orthosomnie, eine Art zwanghafte Beschäftigung mit der Schlafqualität, breitet sich aus und kann die Gesundheit negativ beeinflussen.
Wenn Kontrolle zur Belastung wird
Schlaftracking kann zwar helfen, Schlafmuster sichtbar zu machen, doch viele Nutzer verlassen sich zunehmend auf Zahlenwerte, statt auf ihr eigenes Körpergefühl zu hören. Wearables messen Herzfrequenz, Wachphasen und REM-Schlaf, und geben am Morgen eine Bewertung wie zum Beispiel „Sleep Score“, „Readiness Score“ oder Hinweise auf eine Schlafschuld. Diese Werte beeinflussen oft das emotionale Empfinden – auch wenn man sich eigentlich ausgeruht fühlt.
„Die ständige Selbstvermessung führt bei vielen Menschen zu mehr Ängsten statt zu erholsamer Nachtruhe“, sagt Veronica Cremascoli, Psychotherapeutin und Schlafmedizinerin an der Klinik für Schlafmedizin in Bad Zurzach und Zürich. Weichen die Werte vom erwarteten Ideal ab, empfinden viele Nutzer zunehmend Druck. Der Glaube, dass schlechtere Daten automatisch schlechteren Schlaf bedeuten, entkoppelt Nutzer von ihren natürlichen Körpersignalen.
Folgen des übermässigen Selbsttrackings
Studien zeigen inzwischen deutlich, dass Menschen, die sich zu sehr mit ihrem Schlaftracking beschäftigen, häufiger unter folgenden Beschwerden leiden:
- Einschlafprobleme
- Gedankliche Dauerverfolgung der Schlafqualität
- Künstlich verlängerte Bettzeiten
- Entwicklung direkter Einschlafängste
Ziel ist dabei meist, „gute Ergebnisse“ zu erzielen. Doch genau dies wird zur psychischen Belastung statt zur Unterstützung.
Wearables sind keine medizinischen Geräte
Ein weiteres Problem liegt in der Technik selbst: Die aktuellen Wearables sind nicht medizinisch validiert. Sie geben zwar interessante Hinweise, aber keine verlässliche Diagnose. Ihre Daten basieren auf groben Interpretationen, die oft nicht mit dem tatsächlichen Erleben des Schlafes übereinstimmen. Ohne professionelle Begleitung durch ein Schlaflabor sollten diese Informationen mit grosser Vorsicht verwendet werden.
Strategien gegen den Schlafstress
Was kann man also tun, wenn das Wearable vom Helfer zum Stressfaktor wird? Veronica Cremascoli rät zu bewusstem Abstand und schlägt folgende Strategien vor:
- Keine täglichen Auswertungen – stattdessen nur gelegentliche Kontrollblicke
- Fokus auf Schlafroutinen: Regelmässige Zeiten, gutes Lichtmanagement, Entspannung
- Wohlbefinden geht vor Uhrzeit: Keine Fixierung auf acht Stunden Schlaf
„Schlaf lässt sich nicht kontrollieren wie ein Trainingsplan“, betont Cremascoli. Sie beobachtet häufig, dass Patienten mit chronischen Schlafstörungen ein übermässiges Kontrollbedürfnis haben, das letztlich den Schlaf verhindert. Die Abkehr von diesem Perfektionsstreben ist oft der erste Schritt zur Besserung.
Wenn das Vertrauen in den eigenen Körper zurückkehrt, stellt sich meist auch erholsamer Schlaf ein – ganz unabhängig von Bewertungen und digitalen Zahlenwerten.